Europa soll zum Polizeistaat verkommen

Die Staats- und Regierungschefs Europas verabschieden heute mit dem Stockholmer Programm die Grundsätze der europäischen Sicherheitspolitik für die nächsten fünf Jahre. 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sollen feinmaschige Kontrollsysteme nach US-Vorbild alle Reisebewegungen innerhalb und an den Grenzen der Union erfassen.

Gezählte zwei Dutzend Mal findet sich der Begriff „Datenschutz“ („Data-Protection“) im Stockholmer Programm, dessen Verabschiedung heute auf der Tagesordnung des Europäischen Rats steht.

Dieses nicht mit dem Ministerrat zu verwechselnde Gremium wird in der medialen Öffentlichkeit gemeinhin „EU-Gipfel“ genannt, weil im Europäischen Rat die Staats- und Regierungschefs aller EU-Staaten versammelt sind.

Anmerkung

Das Stockholmer Programm stammt nicht von der EU-Kommission und auch das Parlament wurde noch nicht damit befasst. Es handelt sich vielmehr um die strategischen Vorgaben von 27 Regierungschefs der Mitgliedsstaaten an Kommission und Parlament. Was wie davon umgesetzt wird fällt nach Unterzeichnung des Lissabonvertrags unter die Kontrolle des EU-Parlaments.

Datenaustausch mit Drittstaaten

Das von der scheidenden schwedischen Ratspräsidentschaft ausgearbeitete Programm definiert die Ziele der Union „für ein offenes und sicheres Europa, das seine Bürger schützt und ihnen dient“. An relativ prominenter Stelle (Abschnitt 2.5, S. 18f.) wird das Thema Datenschutz dann auch abgehandelt, allerdings so wie folgt.

Das bestehende EU-Instrumentarium zum Datenschutz solle „evaluiert und wo nötig verbessert“ werden, heißt es da, für Verhandlungen über den Austausch personenbezogener Daten mit Drittstaaten stehe die Ausarbeitung von „Empfehlungen“ an.

Vorbild US-Heimatschutz

Außerdem spricht sich das Stockholmer Programm für „Forschungsprojekte“ zur Entwicklung neuer datenschutzkonformer Technologien aus. Ein europäisches „Zertifikat für Datenschutzkonformität“ ist ebenso angedacht wie eine „Kampagne zur Hebung des Datenschutzbewusstseins unter den Bürgern“.

Dafür ist allerdings schon die Lektüre des Stockholmer Programms selbst geeignet, denn nach all diesen breit ausgewalzten Unverbindlichkeiten kommt „Datenschutz“ nur noch in Zusammenhang mit neuen Überwachungsmaßnahmen nach Vorbild des US-Ministeriums für Heimatschutz vor.

Die Realität: Flugpassagierdaten

„Die EU-Kommission wird aufgefordert, ein System zur Erfassung der Flugpassagierdaten zur Abwehr terroristischer Bedrohungen und schwerer Verbrechen vorzuschlagen“ – selbstverständlich unter „Sicherstellung eines hohen Datenschutzniveaus“ (4.2.2., S. 39).

Auch die geplante „Interoperabilität von IT-Systemen“ solle „vollständig datenschutzkonform“ vor sich gehen (S. 38).

Gemeint ist damit die Zusammenführung der existierenden Datenbanken Europol, Eurojust und jener der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die 2005 in Betrieb gegangen ist.
Zu diesen Daten aus Polizei-, Justiz- und Grenzschutzdatenbanken sollen dann noch jene von SIS II (alias „Schengen zwei“) und VIS (zentrale Visadatenbank inklusive Fingerabdrücken von allen zehn) kommen, sobald diese Systeme einsatzfähig sind.

EU-Datenschützer Hustinx warnt

Der EU-Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx hat präzise Regeln für die neue Zentralagentur für EU-Polizeidatenbanken gefordert. Diese dürfe nicht den Polizeibehörden selbst unterstellt sein.

Europäische Heimatschützer

Laut dem EU-Datenschutzbeauftragten Peter Hustinx zieht die EU-Kommission zwei Optionen in Erwägung, wem die Verantwortung für diese ungeheure Datenansammlung zu übertragen ist. Ob eine neue Behörde aus dem Hut gezaubert wird, oder ob Frontex die Zuständigkeit für den Betrieb des großen EU-Datenbanksystems erhalten wird, ist noch nicht offiziell entschieden.

Die Kompetenzen entsprechen jedenfalls recht exakt jenen des US-Heimatschutzministeriums, denn der von der schwedischen Ratspräsidentschaft formulierte Wortlaut, der auf dem EU-Gipfel abgesegnet werden soll, sieht auch die folgende Maßnahme vor.

Totale Kontrolle der Reisevorgänge

„Der Europäische Rat ist der Meinung, dass ein elektronisches System zur Erfassung der Einreise- und Ausreisevorgänge aus den Mitgliedsstaaten existierende Systeme komplettieren könnte, so dass die Mitgliedsstaaten Daten effizient austauschen können“, heißt es da, natürlich „unter Wahrung der Regeln des Datenschutzes“ (5.1, S. 57).

Wie in der Passage über die Flugpassagierdaten ist hier explizit nicht von den EU-Außengrenzen die Rede, zumal Großbritannien bereits damit begonnen hat, alle Ein- und Ausreisebewegungen in der Luft, zu Wasser und auf dem „Landweg“ [Ärmelkanaltunnel] zu erfassen und aufzuzeichnen.

Ein „Reiseerlaubnissystem“ für Europa

Weiters soll – auch das genau nach dem Vorbild der USA – untersucht werden, ob die Einführung eines „Reiseerlaubnissystems“ („a European system of travel authorisation“, S. 57) „sinnvoll und nützlich“ sei.

Bekanntlich herrscht für Reisende von Drittstaaten in die USA seit Jahren Anmeldepflicht über ein Online-Formular, und zwar Tage vor dem Reiseantritt.

Evaluierte Prävention

„Die Mitgliedsstaaten werden aufgerufen, Präventionsmaßnahmen zu entwickeln, die insbesondere die Früherkennung von Zeichen der Bedrohung und Radikalisierung erlauben“, heißt es auf Seite 57.

Wie diese Präventionsmaßnahmen aussehen sollen, die dann auf EU-Ebene für eine mögliche Übernahme in EU-Recht „evaluiert“ werden, wird nicht näher erläutert.

SWIFT, PayPal, „Raubkopierer“

Fehlt noch die Überwachung des Finanzverkehrs. Die findet sich im Abschnitt „Terrorismus“. Dort „ruft der Europäische Rat die Kommission dazu auf, die Möglichkeiten, den Zahlungsverkehr der Terroristen rückzuverfolgen, zu prüfen“ sowie „neue „Zahlungsformen“ dabei zu berücksichtigen (S. 52).

Übersetzt heißt das: Daten aus dem SWIFT-System und solche von PayPal und Co.

Schließlich hat man noch die unvermeidlichen Wünsche der Unterhaltungsindustrie, „Raubkopierer“ endlich in den Rang von Schwerkriminellen zu erheben, unter dem Punkt 4.4.5. „Wirtschaftsverbrechen und Korruption“ einfließen lassen.

„Der Europäische Rat ruft Ministerrat und Kommission auf, so schnell wie möglich Gesetze für strafrechtliche Maßnahmen zur Durchsetzung der intellektuellen Eigentumsrechte zu ergreifen.“

Taktische Abgefeimtheit

Das Stockholm-Programm für die künftige Entwicklung Europas ist ein Bauplan für den Präventivstaat in zweifacher Hinsicht, weil die Maßnahmen auf nationalstaatlicher Ebene ebenso greifen wie an den Außengrenzen der Union.

Besonders bemerkenswert an diesem Dokument ist die taktische Abgefeimtheit in der Verwendung des Begriffs „Datenschutz“, der im Text übrigens genauso oft vorkommt wie die Grenzschutzagentur Frontex.

Quellen

Alle zitierten Passagen sind auf der Website der EU-Ratspräsidentschaft im Original nachzulesen. Der Link zum Positionspapier mit der Kurzbezeichnung ENFOPOL 23 der schwedischen Delegation beim EU-Ministerrat zur Vorratsdatenspeicherung vom 30. März 2001 darunter.

Das Gros der zitierten Passagen, in denen sich die Vorstellungen jener Politiker, die das Dokument maßgeblich beeinflusst haben, unmissverständlich widerspiegeln, kann dann auch mit einer Suche nach dem Begriff „Data-Protection“ im Dokument aufgefunden werden.

Die Rechteinhaber

Was die Politik angeht, so ist dem Stockholm-Programm schlicht anzusehen, dass es in einer Zeit entstand, in der Politiker vom Schlage eines Tony Blair (Sozialdemokraten), Wolfgang Schäuble (CDU) und Franco Frattini (Berlusconis „Popolo della Liberta“) im Bereich „Innere Sicherheit“ europaweit das Sagen hatten, während die USA von George W. Bush regiert wurden.

Das Stockholmer Programm, benannt nach der Hauptstadt jenes EU-Mitgliedsstaats, von dem am 30. März 2001 (sic!) die Initiative zur Vorratsdatenspeicherung ausgegangen war, weist demnach nicht in die Zukunft Europas, sondern in dessen Vergangenheit.

aus orf futurezone

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