Explosion des Wissens : die Zeit vor dem Urheberrecht

Explosion des Wissens

Hat Deutschland im 19. Jahrhundert einen industriellen Aufstieg erlebt, weil das Land kein Urheberrecht kannte? Mit dieser Analyse sorgt ein Münchner Wirtschaftshistoriker für Aufsehen.


Das ganze Land befindet sich im Leserausch. Selbst Buchhändlern wird die plötzliche Neigung zur Lektüre unheimlich. Die Deutschen, konstatiert der Literaturkritiker Wolfgang Menzel 1836, seien ein „Volk von Dichtern und Denkern“.

„Dieser berühmt gewordene Satz wurde gründlich missverstanden“, behauptet nun der Wirtschaftshistoriker Eckhard Höffner, 44. „Er zielte nicht auf die Creme der Literaten wie Goethe oder Schiller, sondern auf die Tatsache, dass in Deutschland eine unvergleichlich große Masse an Lesestoff produziert wurde.“

Höffner hat die frühe Blütezeit des Gedruckten hierzulande beleuchtet und kommt zu einem überraschenden Befund: Anders als in den Nachbarländern England und Frankreich habe sich in Deutschland im 19. Jahrhundert eine beispiellose Explosion des Wissens vollzogen.

Deutsche Autoren schrieben sich damals die Finger wund. Allein im Jahr 1843 erschienen etwa 14.000 neue Publikationen – gemessen an der damaligen Bevölkerungszahl, war das fast schon heutiges Niveau. Gedruckt wurden Romane, vor allem aber wissenschaftliche Fachaufsätze. Ganz anders die Lage in England: „Man sieht in Großbritannien einen für die Zeit der Aufklärung und bürgerlichen Emanzipation kläglichen Verlauf“, konstatiert Höffner.

Verspielte Kolonialmacht

In der Tat: Gerade mal tausend neue Werke erschienen damals in England pro Jahr – zehnmal weniger als in Deutschland. Das blieb nicht ohne Folgen: Wegen des chronisch schwachen Buchmarkts, glaubt Höffner, verspielte die Kolonialmacht England innerhalb eines Jahrhunderts ihren Vorsprung – während der rückständige Agrarstaat Deutschland mächtig aufholte und bis 1900 zur ebenbürtigen Industrienation aufstieg.

Noch verblüffender mutet die Ursache an, die Höffner für diese Entwicklung ausgemacht hat: Ausgerechnet das Copyright, das die Briten bereits 1710 eingeführt hatten, ließ nach seiner Ansicht die Welt des Wissens im Vereinten Königreich veröden.

In Deutschland hingegen scherte sich lange Zeit niemand um Autorenrechte. Preußen führte das Urheberrecht 1837 ein. Doch wegen andauernder Kleinstaaterei war das Gesetz im Reich zunächst kaum durchzusetzen.

Höffners Fleißarbeit ist die erste wissenschaftliche Arbeit, in der die Auswirkungen des Urheberrechts über einen vergleichbar langen Zeitraum und anhand eines direkten Vergleichs zweier Länder untersucht wird. Seine Erkenntnisse sorgen in der Fachwelt für Aufregung. Denn bislang galt das Urheberrecht als große Errungenschaft und Garant für einen florierenden Buchmarkt. Demnach werden Autoren nur dann zum Schreiben animiert, so die Lehrmeinung, wenn sie ihre Rechte gewahrt wissen.

Doch zumindest der historische Vergleich kommt zu einem anderen Ergebnis. In England nutzten die Verleger ihre Monopolstellung schamlos aus. Neuheiten erschienen meist nur in einer geringen Auflage von maximal 750 Exemplaren und zu einem Preis, der häufig den Wochenlohn einer ausgebildeten Arbeitskraft überstieg.

Mit Büchern zum Reichtum

Die prominentesten Verleger in London verdienten trotzdem prächtig und fuhren teils mit vergoldeten Droschken umher. Ihre Kunden waren Reiche und Adlige, die Bücher als reine Luxusgüter betrachteten. In den wenigen vorhandenen Bibliotheken wurden die kostbaren Folianten zum Schutz vor Dieben an den Bücherregalen festgekettet.

In Deutschland hingegen saßen den Verlegern Plagiatoren im Nacken, die jede Neuerscheinung ohne Furcht vor Strafe nachdrucken und billig verkaufen durften. Erfolgreiche Verlage reagierten mit Raffinesse auf die Abkupferer und ersannen eine Form der Publikation, wie sie noch heute üblich ist: Sie gaben edle Ausgaben für Wohlhabende heraus und günstige Taschenbücher für die Masse.

So entstand ein ganz anderer Buchmarkt als in England: Bestseller und wissenschaftliche Werke wurden in großer Stückzahl und zu Ramschpreisen unters Volk gebracht.

„So viel tausend Menschen in den verborgensten Winkeln Teutschlands, welche unmöglich, der theuren Preise wegen, an Bücher kaufen denken konnten, haben nach und nach eine kleine Bibliothek mit Nachdrucken zusammengebracht“, notierte der Historiker Heinrich Bensen verzückt.

Die Aussicht auf eine breite Leserschaft motivierte vor allem Wissenschaftler, ihre Forschungsergebnisse zu verbreiten. „Eine völlig neue Form der Wissensvermittlung setzte ein“, analysiert Höffner.

Außer der mündlichen Überlieferung durch einen Lehrmeister oder Gelehrten an der Universität kannte die damalige Zeit kaum Wege der Verbreitung von neuen Erkenntnissen. Nun kursierte im Land plötzlich eine Vielzahl anspruchsvoller Abhandlungen.

So meldete das „Literatur-Blatt“ 1826: „Die größte Menge von Schriften handelt von Naturgegenständen aller Art, und vorzüglich von der praktischen Anwendung der Naturkunde in Medicin und Gewerben, Landwirthschaft & c.“

Literatur am laufenden Band

Am laufenden Band verfassten Gelehrte in Deutschland Traktate und Ratgeber, die sich mit Chemie, Mechanik, Maschinenbau, Optik oder der Stahlproduktion beschäftigten. In Großbritannien fröhnte derweil ein elitärer Zirkel einem klassischen Bildungskanon, der sich eher um Belletristik, Philosophie, Theologie, Sprachen und Geschichtsschreibung drehte.

Praktische Anleitungen, wie sie in Deutschland massenhaft gedruckt wurden – etwa zur Deichbaukunde oder zum Getreideanbau -, fehlten weitgehend. „In Großbritannien war man bei der Verbreitung dieser nützlichen modernen Erkenntnisse auf die mittelalterliche Methode des Hörensagens angewiesen“, sagt Höffner.

Die deutsche Wissensoffensive führte zu einer kuriosen Situation, die damals freilich kaum jemandem aufgefallen sein dürfte: So erwirtschaftete der längst in Vergessenheit geratene Berliner Professor für Chemie und Pharmazie, Sigismund Hermbstädt, mit seinem Werk „Grundsätze der Ledergerberei“ (1806) ein höheres Honorar als die britische Autorin Mary Shelley mit ihrem bis heute berühmten Horrorstück „Frankenstein“.

Der Handel mit Fachliteratur lief so gut, dass die Verleger ständig um Nachschub bangten. Diese Situation verlieh selbst den weniger begabten unter den Wissenschaftsautoren eine gute Verhandlungsposition gegenüber den Verlegern. Etliche Professoren verdienten sich neben ihrem Gehalt ein beachtliches Zubrot mit Ratgebern und Info-Broschüren.

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„Aus diesem regen wissenschaftlichen Diskurs hat sich die Gründergeneration entwickelt“, so Höffner. Jene Zeit brachte spätere Großindustrielle wie Alfred Krupp und Werner von Siemens hervor.

Der Markt für wissenschaftliche Literatur brach selbst dann nicht zusammen, als sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich auch in Deutschland das Urheberrecht durchsetzte. Die deutschen Verleger reagierten auf die neue Lage allerdings ähnlich restriktiv wie ihre Kollegen in England: Sie schraubten die Buchpreise in die Höhe und schafften den Billigmarkt ab.

Die Literaten, nunmehr mit Rechten am eigenen Werk versehen, reagierten irritiert. So schrieb Heinrich Heine am 24. Oktober 1854 in angesäuerter Gemütslage an seinen Verleger Julius Campe: „Durch den ungeheuer hohen Preis, den Sie angesetzt, werde ich schwerlich so bald einen zweyten Abdruck des Buchs erleben. Aber geringe Preise, liebster Campe, müssen Sie setzen, sonst sehe ich wirklich nicht ein, warum ich bei meinen materiellen Interessen so nachgiebig war.“

Von Frank Thadeusz

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